Strategische Ziele priorisieren: Die ECHO-Triage trennt Phantome von Prioritäten

Portrait von Constantin Melchers tantin Consulting UG
Constantin Melchers
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Lesezeit: 8 Minuten
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Letzes Update:
17.6.2025

tl;dr

Wie eine Triage-Schwester in der Notaufnahme musst Du als Führungskraft entscheiden, welche strategischen Ziele wirklich überleben müssen. Die meisten Unternehmen jonglieren mit 20+ Zielen und schaffen nichts. Die Lösung: Radikale Priorisierung nach dem 70-20-10 Prinzip (Bass-Melodie-Effekte) und brutale Ehrlichkeit. Die ECHO-Triage hilft mit drei Fragen, echte von Phantom-Zielen zu trennen. Am Ende bleiben 2-3 Prioritäten, die wirklich zählen. Denn strategische Exzellenz entsteht nicht durch Addition, sondern durch Subtraktion.

Audio-Summary des Beitrags

Es ist 3:47 Uhr morgens in der Notaufnahme. Eine Frau mit Herzinfarkt-Symptomen wird hereingerollt. Gleichzeitig schreit ein Kind mit gebrochenem Arm. Im Wartebereich hustet jemand Blut. Die Triage-Schwester – ruhig, fokussiert, entschieden – braucht sieben Sekunden für ihre Entscheidung. Herzinfarkt zuerst. Keine Diskussion. Keine Rechtfertigung. Keine Entschuldigung bei den Wartenden.

Jetzt stell Dir vor, diese Triage-Schwester wäre Deine neue Strategieberaterin.

In Deinem Unternehmen schreien auch alle Projekte "Notfall!". Die Digitalisierung. Die Marktexpansion. Die Prozessoptimierung. Das Nachhaltigkeitsprogramm. Die Mitarbeiterentwicklung. Alles wichtig. Alles dringend. Alles jetzt.

Die unbequeme Wahrheit: Manche Deiner strategischen Ziele werden sterben müssen, damit Dein Unternehmen überlebt.

Das Paradox der strategischen Überladung

Du kennst das: Jahresauftakt, große Strategieklausur. Am Ende stehen 23 strategische Ziele auf dem Flipchart. Alle nicken. Alle sind motiviert. Alle wissen insgeheim: Das wird nichts.

Die Illusion der Vollständigkeit ist der größte Feind strategischer Exzellenz. Wir glauben, wenn wir nur alles aufschreiben, alles planen, alles angehen – dann kann nichts schiefgehen. Das Gegenteil ist wahr.

Seneca, der römische Philosoph, warnte in seinen Briefen vor der Zerstreuung der Kräfte. Sein Gedanke in moderne Worte gefasst: "Wer überall hin will, kommt nirgends an." Er meinte damit nicht nur Reisen. Er meinte die Kunst der Lebensführung. Und was ist Strategie anderes als die Kunst der Unternehmensführung?

Das moderne Äquivalent: Unternehmen, die alles sein wollen, innovativ UND traditionell, global UND lokal, digital UND persönlich – werden zu nichts. Sie werden zur grauen Masse. Austauschbar. Vergessbar.

Die Anatomie wirkungsvoller Priorisierung

Das 3-Horizonte-Prinzip

McKinsey predigt es seit Jahren. Aber lass es mich Dir anders zeigen:

Stell Dir Deine Strategie als DJ-Pult vor:

70% Bass (Horizont 1): Das ist Dein Beat. Dein Kerngeschäft. Ohne Bass keine Party. Hier optimierst Du, was bereits groovt.

20% Melodie (Horizont 2): Die neuen Sounds, die Du gerade testest. Manches wird Hit, manches Flop. Hier experimentierst Du kontrolliert.

10% Effekte (Horizont 3): Die verrückten Samples. KI-Blockchain-Quantencomputing-wasauchimmer. Das meiste verpufft. Aber einer dieser Effekte könnte Dein nächster Signature-Sound werden.

Der fatale Fehler: Die meisten Unternehmen ballern nur Effekte. Kein Bass, keine Melodie, nur Krawall. Das Publikum flieht. Game over.

Ein fiktives Beispiel verdeutlicht das Dilemma

Stell Dir vor: Ein mittelständischer Maschinenbauer, typisch für viele KMUs. Die Geschäftsführung startet ambitioniert mit 18 strategischen Zielen ins neue Jahr: Digitalisierung der Produktion, neue Märkte in Asien, Nachhaltigkeitszertifizierung, KI-Integration, Arbeitgebermarke stärken, und, und, und...

Das vorhersehbare Szenario nach sechs Monaten: Die Digitalisierung stockt, weil die IT-Abteilung auch die Asien-Expansion stemmen soll. Die Nachhaltigkeitszertifizierung liegt auf Eis, weil alle im KI-Projekt stecken. Die Mitarbeiter sind frustriert. Nichts wird fertig. Alles bleibt Baustelle.

Die Wende in unserem Beispiel: Die Geschäftsführung macht eine radikale Triage. Drei Ziele überleben: 1) Digitalisierung EINES Kernprozesses, 2) EIN Pilotmarkt in Asien, 3) Mitarbeiterqualifikation für beides. Der Rest: Konsequent auf Eis. Das hypothetische Ergebnis? Alle drei Ziele erreicht. Die Organisation hätte Selbstvertrauen getankt. Bereit für die nächsten drei.

Die Macht der strategischen Subtraktion

Michelangelo wurde einmal gefragt, wie er David erschaffen hat. Seine Antwort, frei interpretiert: "Ich habe einfach alles weggehauen, was nicht David war."

Strategische Meisterschaft entsteht nicht durch Addition, sondern durch Subtraktion.

Was heißt das konkret?

  • Für jedes neue Ziel, das Du aufnimmst, streichst Du zwei alte.
  • Du fragst nicht "Was könnten wir noch tun?", sondern "Was müssen wir lassen?"
  • Du feierst nicht die Projekte, die Du startest, sondern die, die Du beendest.

Resonanz statt Relevanz

Hier wird es philosophisch und praktisch zugleich. Relevanz ist das, was der Markt scheinbar fordert. Resonanz ist das, was mit Deiner organisationalen DNA schwingt.

Ein Beispiel: Künstliche Intelligenz ist relevant. Für jeden. Aber resoniert sie mit Deinem mittelständischen Handwerksbetrieb? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Die Frage ist nicht: "Sollten wir KI einsetzen?" Die Frage ist: "Wie können wir KI so einsetzen, dass sie unsere handwerkliche Exzellenz multipliziert statt ersetzt?"

Ziele, die nicht mit Deiner Identität resonieren, sind wie Organe, die Dein Körper abstößt. Sie mögen technisch perfekt sein. Aber sie gehören nicht zu Dir.

Von der Erkenntnis zum Handeln: Die ECHO-Triage

Theorie ist gut. Praxis ist besser. Aber was, wenn ich Dir sage, dass Du keine weitere komplizierte Matrix brauchst? Keine Punktesysteme. Keine Berechnungen. Nur drei Fragen, die alles entscheiden.

Die ECHO-Triage – angelehnt an das Resonanzprinzip, das jeder Transformation zugrunde liegt:

1. Resoniert es?

Schwingt dieses Ziel mit Deiner wahren organisationalen Identität?

Das ist die Frage nach dem Wesenskern. Nicht: "Sollten wir das tun?" Sondern: "Sind wir das?" Ein Traditionshandwerker, der auf Billig-E-Commerce umschwenkt, weil "das alle machen"? Das resoniert nicht. Das knirscht.

Der Test: Stell Dir vor, Deine besten Mitarbeitenden hören von diesem Ziel. Leuchten ihre Augen oder runzeln sie die Stirn?

2. Transformiert es?

Macht uns dieses Ziel stärker oder nur beschäftigter?

Vorsicht: Viele Ziele tarnen sich als Transformation, sind aber nur Beschäftigungstherapie. Die zehnte Software-Einführung. Das nächste Change-Projekt. Die x-te Reorganisation.

Der Test: Wärst Du nach Erreichen dieses Ziels ein fundamental anderes, stärkeres Unternehmen? Oder nur eines mit einer weiteren Checkbox abgehakt?

3. Überlebt es den Stille-Test?

Würdest Du dieses Ziel auch verfolgen, wenn niemand zuschaut?

Das ist der härteste Test. Viele Ziele existieren nur für die Außenwirkung. Für die Investoren. Für die Presse. Für LinkedIn. Aber was würdest Du tun, wenn es niemand mitbekommt?

Der Test: Alle Stakeholder sind für ein Jahr auf einer einsamen Insel. Keine Reports. Keine Präsentationen. Welche Ziele würdest Du trotzdem verfolgen?

Die ECHO-Triage in Aktion

Lass uns die ECHO-Triage an einem neuen Beispiel durchspielen. Stell Dir vor, Dein Unternehmen hat fünf strategische Ziele identifiziert. Jetzt wird's brutal ehrlich:

Digitalisierung Kernprozess:

  • Resoniert es? ✓ JA - Effizienz ist unsere DNA
  • Transformiert es? ✓ JA - Fundamental neue Arbeitsweise
  • Stille-Test? ✓ JA - Würden wir auch ohne Buzzword-Druck machen→ ECHTES ZIEL

Expansion Asien:

  • Resoniert es? ✗ NEIN - Wir sind regional verwurzelt
  • Transformiert es? ? VIELLEICHT - Könnte uns öffnen
  • Stille-Test? ✗ NEIN - Machen wir nur, weil "Wachstum" gut klingt→ SCHEIN-ZIEL

KI-Integration:

  • Resoniert es? ✗ NEIN - Fühlt sich aufgezwungen an
  • Transformiert es? ✗ NEIN - Lösung sucht Problem
  • Stille-Test? ✗ NEIN - Pure FOMO (Fear of Missing Out)→ PHANTOM-ZIEL

Employer Branding:

  • Resoniert es? ✓ JA - Menschen waren immer unser Kern
  • Transformiert es? ✓ JA - Verändert, wie wir uns selbst sehen
  • Stille-Test? ✓ JA - Würden wir für uns selbst tun→ ECHTES ZIEL

Neue Produktlinie:

  • Resoniert es? ✓ JA - Innovation ist unsere Tradition
  • Transformiert es? ? UNKLAR - Kommt auf das Produkt an
  • Stille-Test? ✓ JA - Unabhängig vom Marktdruck sinnvoll→ POTENTIELLES ZIEL (needs weitere Klärung)

Das radikale Ergebnis: Von fünf "strategischen Prioritäten" überleben zwei sicher, eine vielleicht. Der Rest? Ablenkung.

Die Macht der Einfachheit

Keine Excel-Tabellen. Keine Workshops mit 50 Post-its. Keine endlosen Diskussionen. Drei Fragen. Brutale Ehrlichkeit. Klare Entscheidung.

Die ECHO-Triage funktioniert, weil sie das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Sie fragt nicht nach Marktpotential, ROI oder Wettbewerbsvorteilen. Sie fragt nach dem, was wirklich zählt: Bist Du das? Macht es Dich stärker? Würdest Du es auch im Stillen tun?

Ein Geheimnis: Die meisten Deiner Konkurrenten jonglieren mit 20 Schein-Zielen. Wenn Du Dich auf zwei bis drei ECHTE konzentrierst, hast Du bereits gewonnen.

Priorisierung als Führungskunst

Die härteste Aufgabe? Das Nein verkaufen. An Dein Team. An Deine Stakeholder. An Dich selbst.

Der strategische Trauerraum: Ja, Du darfst trauern um die Projekte, die Du beendest. Organisiere eine "Beerdigung" für gestoppte Initiativen. Würdige, was war. Dann lass los.

Die Kommunikation des Neins:

  • Erkläre nicht, warum etwas nicht wichtig ist
  • Erkläre, warum anderes wichtiger ist
  • Zeige die Opportunitätskosten auf
  • Male ein Bild der fokussierten Zukunft

Das Team einbinden: Lass Dein Team die FOCUS-Matrix selbst anwenden. Die Erkenntnis von innen wirkt stärker als die Anweisung von oben.

Ein Führungsprinzip aus der Notaufnahme: Die Triage-Schwester diskutiert nicht. Aber sie handelt transparent. Jeder sieht, nach welchen Kriterien entschieden wird. Das schafft Akzeptanz, auch für harte Entscheidungen.

Das Echo – Was bleibt

Die Samurai-Weisheit von Miamoto Musashi lehrt uns: "Die wahre Kunst des Schwertkampfes liegt nicht in tausend Techniken, sondern in der Meisterschaft der einen, die zählt."

Deine strategische Meisterschaft entsteht nicht durch mehr Ziele, mehr Projekte, mehr Initiativen. Sie entsteht durch den Mut, Dich auf das Wesentliche zu fokussieren.

Das Experiment für Deine nächste Strategiesitzung: Starte mit der Frage: "Was werden wir NICHT tun?" Sammle erst die Nicht-Ziele. Dann erst die Ziele. Du wirst erstaunt sein, wie klar plötzlich alles wird.

Die eine Wahrheit zum Mitnehmen: In einer Welt, in der alle alles machen, wird derjenige gewinnen, der den Mut hat, fast nichts zu machen – aber dieses fast nichts mit absoluter Exzellenz.

Strategische Priorisierung ist keine Technik. Sie ist eine Haltung. Die Haltung, dass weniger mehr ist. Dass Fokus Kraft schafft. Dass Nein das neue Ja ist.

In der Notaufnahme entscheidet die richtige Priorisierung über Leben und Tod. In Deinem Unternehmen entscheidet sie über Erfolg und Bedeutungslosigkeit.

Die Frage ist nicht, ob Du priorisieren wirst. Die Frage ist, ob Du es bewusst tust – oder ob die Umstände es für Dich tun.

Was wählst Du?

Strategische Klarheit entsteht durch bewusste Entscheidungen. Wenn Du bereit bist, die schwierigen Fragen zu stellen und noch schwierigeren Antworten zu leben, lass uns darüber sprechen. Die ECHO-Triage ist nur der Anfang dessen, was möglich wird, wenn Strategie auf Philosophie trifft.

Quellen

Seneca, Lucius Annaeus (2022): Briefe an Lucilius.

Musashi, Miyamoto (2014): Das Buch der fünf Ringe.

Rumelt, Richard (2011): Good Strategy Bad Strategy.

Collins, Jim (2020): Der Weg zu den Besten.

Baghai, Mehrdad/Coley, Stephen/White, David (2000): The Alchemy of Growth.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung.

McKeown, Greg (2018): Essentialismus. Die konsequente Suche nach Weniger.

Newport, Cal (2017): Deep Work. Konzentriert arbeiten.

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