tl;dr
Tinkering ist die Kunst des strategischen Experimentierens – ein Gegenentwurf zur klassischen Planung. Statt auf langfristige Prognosen zu setzen, fokussiert sich der Ansatz auf kleine, reversible Experimente und schnelles Lernen. Die philosophischen Wurzeln reichen von Seneca bis Nietzsche. In der Praxis bedeutet Tinkering: Wöchentliche Mini-Experimente statt schwerer Transformationsprojekte. Der Artikel zeigt, warum die meisten Führungskräfte noch an ihren Plänen festhalten, obwohl sie wissen, dass diese Makulatur sind und wie der Wandel zum "strategischen Tinkerer" gelingt. Kernbotschaft: In einer unvorhersagbaren Welt ist die Fähigkeit zu lernen wichtiger als die Fähigkeit zu planen.
Audio-Summary des Beitrags
Stell Dir vor: Es ist 22 Uhr. Du sitzt noch im Büro, vor Dir der dritte Kaffee und die x-te Version Deines Strategiepapiers. Fünf Jahre in die Zukunft sollst Du planen. In einer Welt, die sich alle sechs Monate neu erfindet.
Und dann passiert es. Diese eine Frage, die alles verändert: Was, wenn der Plan das Problem ist?
Nassim Taleb würde jetzt lächeln. Der Mann, der uns lehrte, dass schwarze Schwäne keine Ausnahme sind, sondern die Regel. Er gab uns ein Geschenk: Tinkering. Nicht als weitere Management-Methode, sondern als fundamentale Haltung zur Realität.
Was Tinkering wirklich bedeutet (Spoiler: Es ist nicht "mal schauen")
Vergiss alles, was Du über strategische Planung gelernt hast. Tinkering ist das Gegenteil von "Wir haben einen Plan und ziehen ihn durch". Es ist die Kunst des bewussten Bastelns – ein Tanz zwischen Kontrolle und Chaos.
Die Essenz: Kleine, reversible Experimente. Schnelles Lernen. Radikale Anpassung.
Philosophisch wird es spannend: Tinkering ist eigentlich ein uraltes Konzept. Seneca hätte es als „premeditatio malorum in Aktion" bezeichnet – die stoische Praxis, sich auf das Unerwartete vorzubereiten, indem man fortwährend testet, was funktioniert.
Der fundamentale Unterschied
Klassische Strategie: "Wir denken zu wissen, wo wir in fünf Jahren sein wollen. "Tinkering: "Wir wissen, was wir diese Woche lernen wollen."
Die bittere Realität in meiner Beratungspraxis: Die meisten Führungskräfte klammern sich an ihre Pläne wie Ertrinkende an Treibholz. Sie wissen, dass die Welt unberechenbarer wird. Sie spüren, dass ihre Prognosen Makulatur sind. Und trotzdem machen sie weiter wie bisher. Warum? Weil die Alternative, das bewusste Experimentieren, Mut erfordert. Mut, den viele nicht aufbringen. Noch nicht.
Die Psychologie des strategischen Bastelns
Hier kommt Nietzsche ins Spiel. Seine Idee der "Umwertung aller Werte" – was ist das anderes als radikales Tinkering mit unseren Grundannahmen?
Die unbequeme Wahrheit: Die meisten Strategien scheitern nicht an schlechter Planung. Sie scheitern an der Illusion der Kontrolle. Tinkering akzeptiert das Chaos und macht es zum Verbündeten.
Das Paradox der Kontrolle
Je mehr wir loslassen, desto mehr gewinnen wir. Klingt esoterisch? Ist es nicht. Es ist die Erkenntnis, dass in komplexen Systemen kleine Eingriffe oft größere Wirkung haben als Masterpläne.
Die Alternative zur Großplanung: Die Idee klingt verlockend: Wöchentliche Mini-Experimente in einzelnen Abteilungen, aus denen organisch Lösungen wachsen. Geringere Kosten, höhere Akzeptanz. Die Realität? Die wenigsten trauen sich diesen Weg tatsächlich zu gehen. Die Sehnsucht nach dem großen Wurf ist meist stärker als der Mut zum kleinen Schritt.
Tinkering ist nicht Design Thinking (auch wenn es so klingen mag)
Lass mich raten: Du denkst gerade "Das klingt wie Design Thinking mit einem neuen Namen". Verständlich, aber falsch. Der Unterschied ist fundamental.
Die Design Thinking Falle
Design Thinking ist ein Prozess. Mit klaren Phasen: Empathize, Define, Ideate, Prototype, Test. Ein Anfang, ein Ende. Tinkering ist eine Praxis. Kein Anfang, kein Ende. Nur kontinuierliche Evolution.
Design Thinking fragt: "Wie lösen wir dieses Problem für den Nutzer? "Tinkering fragt: "Was passiert, wenn wir das hier verändern?"
Design Thinking sucht die beste Lösung. Tinkering sucht nach dem nächsten Experiment. Design Thinking will ankommen. Tinkering will in Bewegung bleiben.
Der entscheidende Unterschied
Design Thinking ist apollinisch – strukturiert, methodisch, zielgerichtet. Tinkering ist dionysisch – explorativ, emergent, überraschend. Beide haben ihren Platz. Aber verwechsle sie nicht.
Ein Beispiel: Ein Design Thinking Workshop produziert einen Prototyp für ein neues Produkt. Tinkering produziert die Erkenntnis, dass das Unternehmen vielleicht gar keine neuen Produkte braucht, sondern ein neues Geschäftsmodell.
Design Thinking optimiert innerhalb des Systems. Tinkering hinterfragt das System selbst.
Die drei Säulen des strategischen Tinkering
1. Die Kunst des kleinen Fehlers
"Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better." – Samuel Beckett
Fehler sind keine Bugs, sondern Features. Aber und das ist entscheidend, nur wenn sie klein und reversibel sind.
Die Tinkering-Regel: Wenn ein Experiment scheitert, darf es maximal eine Woche Arbeit kosten. Mehr nicht.
2. Das Prinzip der schwachen Signale
Während Deine Konkurrenten auf Big Data starren, hörst Du auf die leisen Töne. Ein Kunde, der etwas Seltsames fragt. Ein Mitarbeiter mit einer verrückten Idee. Ein Lieferant, der von einem neuen Trend erzählt.
Die Praxis: Richte ein "Signal-System" ein. Jede Woche sammelt Dein Team drei schwache Signale. Einmal im Monat diskutiert ihr: Welches Signal könnte ein Experiment wert sein?
3. Der adaptive Rhythmus
Vergiss Quartalsplanung. Denke in Experimenten-Zyklen:
- Woche 1-2: Hypothese & Design
- Woche 3-4: Durchführung
- Woche 5: Auswertung & Entscheidung
Der Clou: Nicht jedes Experiment muss erfolgreich sein. Aber jedes muss eine Erkenntnis liefern.
Warum Tinkering gerade jetzt wichtiger ist als je zuvor
Die Welt hat sich nicht nur beschleunigt – sie ist fundamental unvorhersagbarer geworden. KI, Klimawandel, geopolitische Verschiebungen. Wer heute noch langfristige, mehrjährige Pläne macht, plant für eine Welt, die es nicht mehr geben wird.
Die neue strategische Intelligenz
Strategische Intelligenz bedeutet heute nicht mehr, die beste Analyse zu haben. Es bedeutet, am schnellsten zu lernen. Und genau das ermöglicht Tinkering.
Die dunkle Seite des Tinkering (ja, die gibt es)
Lass uns ehrlich sein: Tinkering kann zur Ausrede werden. "Wir experimentieren noch" als Synonym für "Wir haben keine Ahnung".
Die drei Fallen
- Die Aktivitätsfalle: Viel tun, wenig lernen
- Die Komfortfalle: Nur "sichere" Experimente wagen
- Die Richtungslosigkeit: Experimentieren ohne strategischen Kompass
Der Ausweg: Tinkering braucht einen philosophischen Unterbau. Bei tantin nennen wir das "strategische Selbstüberwindung", die Bereitschaft, eigene Annahmen radikal in Frage zu stellen.
Die Grenzen des Tinkering (oder: Wann Du NICHT experimentieren solltest)
Seien wir radikal ehrlich: Es gibt Situationen, in denen Tinkering nicht nur unnütz, sondern gefährlich ist.
Wenn Tinkering toxisch wird
In der akuten Krise: Wenn das Haus brennt, experimentierst Du nicht mit Löschmethoden. Du löschst. Punkt. Unternehmen in existenzieller Not brauchen klare Entscheidungen, keine Experimente.
Bei regulatorischen Vorgaben: Compliance ist kein Experimentierfeld. Wenn der Gesetzgeber klare Regeln vorgibt, ist Tinkering fehl am Platz. Du kannst mit der Umsetzung experimentieren, nicht mit der Einhaltung.
In sicherheitskritischen Bereichen: Ein Chirurg tinkert nicht während der OP. Ein Pilot nicht während des Fluges. Es gibt Bereiche, wo Experimente Leben kosten können.
Bei fundamentalen Werten: Manche Dinge sind nicht verhandelbar. Die Würde der Mitarbeiter. Die Integrität des Unternehmens. Ethische Grundsätze. Hier ist Klarheit gefragt, kein Experimentieren.
Das Tinkering-Paradox
Je erfolgreicher Tinkering wird, desto gefährlicher kann es werden. Warum? Weil der Erfolg zur Ideologie werden kann. "Wir müssen experimentieren" wird zum Dogma und Dogmen sind das Gegenteil von Tinkering.
Die Warnsignale:
- Wenn "Experimentieren" zur einzigen Antwort wird
- Wenn Mitarbeiter erschöpft sind von ständigem Wandel
- Wenn die Kernprozesse leiden
- Wenn Kunden die Orientierung verlieren
Die Kunst der Balance
Tinkering ist wie Salz in der Suppe. Zu wenig, und es fehlt der Geschmack. Zu viel, und alles ist ruiniert. Die Kunst liegt darin, zu wissen, wann genug ist.
Die 80/20-Regel des Tinkering: 80% Deiner Organisation sollte stabil laufen. 20% darf experimentieren. Nicht umgekehrt. Die Stabilität finanziert die Experimente, nicht die Experimente die Stabilität.
Praktisches Tinkering: Der Montags-Test
Hier eine Übung, die Du sofort starten kannst:
Der Montags-Test: Jeden Montag stellst Du Dir drei Fragen:
- Was glauben wir zu wissen, was aber vielleicht nicht stimmt?
- Welches kleine Experiment könnte das testen?
- Was ist das Schlimmste, was passieren kann?
Wenn die Antwort auf Frage 3 nicht existenzbedrohend ist – starte das Experiment. Diese Woche. Nicht nächsten Monat.
Die Transformation vom Planer zum Tinkerer
Der Weg vom strategischen Planer zum strategischen Tinkerer ist keine Methoden-Frage. Es ist eine Identitätsfrage.
Die alte Identität: "Ich bin der, der weiß, wo es langgeht."Die neue Identität: "Ich bin der, der am schnellsten lernt."
Diese Transformation – das ist es, was Nietzsche mit "Selbstüberwindung" meinte. Nicht das Ego zu verlieren, sondern es in den Dienst des Lernens zu stellen.
Tinkering als Wettbewerbsvorteil
In einer Welt, in der alle dieselben Strategietools nutzen, ist Tinkering dein Differenzierungsmerkmal. Während andere noch analysieren, hast du schon drei Experimente durchgeführt.
Das Tinkering-Portfolio
Stelle Dir Deine Strategie als Portfolio von Experimenten vor:
- 70%: Sichere, inkrementelle Tests
- 20%: Mutige, aber reversible Experimente
- 10%: Verrückte Ideen mit Transformationspotenzial
Die Kunst: Die Balance zu halten. Zu viel Sicherheit = Stagnation. Zu viel Verrücktheit = Chaos.
Die philosophische Dimension: Tinkering als Lebenshaltung
Camus sprach vom "absurden Menschen", jenem, der weiß, dass es keine ultimativen Antworten gibt, aber trotzdem (oder gerade deswegen) handelt. Das ist die Essenz von Tinkering.
Die Erkenntnis: In einer absurden (sprich: unvorhersagbaren) Welt ist die einzig rationale Strategie das irrationale Experiment.
Der Sisyphos-Manager
Wie Sisyphos seinen Stein den Berg hinaufrollt, so führt der Tinkering-Manager Experiment um Experiment durch. Der Unterschied? Der Tinkering-Manager hat verstanden: Der Weg ist das Ziel.
Jedes Experiment, ob erfolgreich oder nicht, macht die Organisation stärker. Nicht durch die Ergebnisse, sondern durch die Fähigkeit zu lernen.
Der Echo-Effekt: Wenn Tinkering zur Kultur wird
Hier wird es magisch. Wenn Tinkering von einer Methode zu einer Kultur wird, entsteht das, was wir bei tantin den "Echo-Effekt" nennen: Jedes Experiment hallt durch die Organisation und erzeugt neue Experimente.
Beispiel: Ein Vertriebsexperiment führt zu einer Produktidee, die zu einem Prozessexperiment führt, das zu einer neuen Kundenkategorie führt...
Die Resonanzfähigkeit
Organisationen, die tinkern, entwickeln eine besondere Sensibilität. Sie spüren Veränderungen früher, reagieren schneller, lernen tiefer.
Der Tinkering-Kompass: Deine nächsten Schritte
- Diese Woche: Identifiziere drei Grundannahmen in Deinem Business, die Du nie hinterfragt hast
- Nächste Woche: Designe ein Experiment, das eine dieser Annahmen testet
- In einem Monat: Etabliere einen wöchentlichen "Tinkering-Review"
- In drei Monaten: Miss nicht nur Ergebnisse, sondern Lerngeschwindigkeit
Die abschließende Provokation
Was, wenn ich Dir sage, dass Deine nächste große Strategie nicht in einem Strategieworkshop entsteht, sondern in einem missglückten Experiment nächste Woche?
Was, wenn der Unterschied zwischen Marktführern und Mitläufern nicht in besseren Plänen liegt, sondern in der Bereitschaft, diese Pläne täglich über Bord zu werfen?
Die Frage ist nicht: Kannst du es dir leisten zu tinkern? Die Frage ist: Kannst du es dir leisten, es nicht zu tun?
Du willst tiefer eintauchen? Im Resonanzraum-Workshop erkunden wir gemeinsam, wie Tinkering in deinem spezifischen Kontext zur transformativen Kraft wird. Keine Methode von der Stange, sondern ein Experimentierfeld für deine strategische Evolution.
Taleb, N. N. (2007) Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. München: Carl Hanser Verlag.
Taleb, N. N. (2013) Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen. München: Knaus Verlag.
Schrage, M. (2013) Just How Valuable Is Google's "20% Time"?. Harvard Business Review.
Cleverism (o.J.) The Google Way of Motivating Employees.
Rayna, T., & Striukova, L. (2021). Fostering skills for the 21st century: The role of Fab Labs and makerspaces. Technological Forecasting and Social Change, 164, 120391.
Nambisan, S., Wright, M., & Feldman, M. (2019). The digital transformation of innovation and entrepreneurship: Progress, challenges and key themes. Research Policy, 48(8), 103773.
AWS (o.J.) An Inside Look at the Amazon Culture: Experimentation, Failure, and Customer Obsession.