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Die Blue Ocean Strategie ist mehr als eine Methode – sie ist ein Akt der strategischen Selbstüberwindung. Statt im "Red Ocean" gegen Konkurrenten zu kämpfen, erschaffst du neue Märkte durch Value Innovation. Der Schlüssel: Eliminiere Branchenstandards, reduziere Überflüssiges, erhöhe Unterschätztes und kreiere komplett Neues. Aber Vorsicht: Jeder Blue Ocean färbt sich irgendwann rot. Die wahre Stärke liegt in der Fähigkeit zur permanenten Neuerfindung.
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Gestern im Supermarkt. Vier Regalmeter Shampoo. 200 Sorten, die alle dasselbe versprechen: saubere Haare. Daneben ein kleines Regal mit festem Shampoo. Ein Zehntel des Platzes, dreifacher Preis, ausverkauft.
Der Moment, in dem mir klar wurde: Wir konkurrieren alle im falschen Regal.
Nicht nur im Supermarkt. In fast jeder Branche kämpfen Unternehmen erbittert um Zentimeter in überfüllten Regalen, während nebenan ganze Gänge leer stehen. Sie optimieren, was alle optimieren. Sie verbessern, was alle verbessern. Und wundern sich, warum die Margen schrumpfen.
Das überfüllte Regal wird zum roten Ozean
Diese Regal-Logik hat einen Namen: "Red Ocean" – ein Begriff, den W. Chan Kim und Renée Mauborgne prägten. Es ist ein Markt, der rot ist vom Blut des Konkurrenzkampfes. Wie die 200 Shampoo-Sorten kämpfen hier alle um dieselben Kunden mit denselben Mitteln. Der Preis wird zur einzigen Waffe, Innovation bedeutet nur noch "ein Feature mehr als die anderen". Es ist ein Nullsummenspiel, bei dem der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist.
Seneca hätte es als eine Form der Selbstzerstörung bezeichnet: "Jeder Überschuss trägt den Keim seines eigenen Untergangs in sich." Der Überschuss an Shampoo-Sorten führt zur Selbstkannibalisierung. Mehr Auswahl macht nicht glücklicher, sie macht die Entscheidung zur Qual und den Preis zum einzigen Unterscheidungsmerkmal.
Erkennst Du Dich wieder?
- Die x-te Preisrunde in diesem Jahr
- Features, die niemand wirklich braucht, aber alle haben
- Marketingbudgets, die explodieren, während die Margen implodieren
Die radikale Alternative: Das leere Regal nebenan
W. Chan Kim und Renée Mauborgne haben mit ihrer Blue Ocean Strategie eine fundamentale Wahrheit formuliert: Du musst nicht das beste Shampoo im überfüllten Regal sein. Du kannst das einzige Produkt im Regal nebenan sein.
Ihr "Blue Ocean" ist dieser unbesetzte Raum, ein Markt ohne Konkurrenz, weil du ihn gerade erst erschaffen hast. Wie das feste Shampoo, das plötzlich eine ganz andere Kundengruppe anspricht: die, denen Nachhaltigkeit wichtiger ist als der günstigste Preis.
Aber – und hier wird es philosophisch interessant – es geht nicht nur darum, ein neues Regal zu finden. Es geht um einen fundamentalen Akt der Selbstüberwindung. Nietzsche würde sagen: "Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können."
Der Blue Ocean ist dieser tanzende Stern. Er entsteht nicht durch Marktanalyse allein, sondern durch den Mut, die eigene Branchenlogik zu transzendieren. Durch die Bereitschaft, das sichere überfüllte Regal zu verlassen und einen Gang zu erschaffen, den es vorher nicht gab.
Value Innovation: Die zwei Sprünge ins Unbekannte
Im Kern der Blue Ocean Strategie steht die "Value Innovation" – ein Konzept, das paradox klingt: Mehr Wert bei weniger Kosten. Wie soll das gehen?
Die Antwort liegt in zwei aufeinanderfolgenden Sprüngen. Erst der "abduktive Sprung" – jener Moment der intuitiven Erkenntnis, in dem du aufhörst, in den Kategorien deiner Branche zu denken. Statt zu fragen "Wie können wir unser Produkt verbessern?", fragst du: "Was wäre, wenn es unser Produkt gar nicht geben müsste?"
Aber die Erkenntnis allein reicht nicht. Es braucht auch den "dionysischen Sprung" – den Mut, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen. Denn zwischen "Das könnte funktionieren" und "Wir machen das jetzt" liegt ein Abgrund, den nur wenige überspringen.
Drei Beispiele, die alles veränderten:
Cirque du Soleil: Sie fragten nicht "Wie machen wir einen besseren Zirkus?", sondern "Was, wenn ein Zirkus kein Zirkus wäre?" Das Ergebnis: Eine Synthese aus Theater und Akrobatik, die beide Märkte transzendierte.
Nintendo Wii: Während Sony und Microsoft um die beste Grafik kämpften, fragte Nintendo: "Was, wenn Gaming nichts mit Grafik zu tun hätte?" Sie schufen einen neuen Markt für Bewegungsspiele.
Southwest Airlines: Sie eliminierten alles, was Fliegen teuer machte, und fragten: "Was, wenn Fliegen wie Busfahren wäre?" Ein neuer Markt entstand.
Der ERRC-Grid: Dein Werkzeug zur Transformation
Die Methode klingt einfach, erfordert aber radikales Umdenken:
- Eliminieren: Was hält deine Branche für unverzichtbar, ist aber eigentlich Ballast?
- Reduzieren: Wo übertreibt ihr es alle gemeinsam?
- Erhöhen: Was unterschätzt die Branche systematisch?
- Kreieren: Was fehlt komplett, weil niemand danach fragt?
Stell dir vor: Ein mittelständischer Maschinenbauer wendet den ERRC-Grid an. Was könnte passieren?
- Eliminieren: Den reinen Maschinenverkauf (alle machen das)
- Reduzieren: Feature-Wettrüsten (kein Kunde nutzt alle Funktionen)
- Erhöhen: Prozessberatung (wird meist vernachlässigt)
- Kreieren: Outcome-Garantien (traut sich keiner)
Das Ergebnis? Statt Maschinen könnten sie garantierte Produktionsergebnisse verkaufen. Ein komplett neuer Markt.
Die entscheidende Frage für dich: Wenn du dieses Raster auf dein Geschäft anwendest – was würdest du eliminieren, auch wenn alle sagen, es sei unverzichtbar?
Die unbequeme Wahrheit über Blue Oceans
Hier kommt die Warnung, die dir niemand gibt: Ein Blue Ocean bleibt nicht blau.
Camus würde sagen: "Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen." Die Erschaffung neuer Märkte ist ein ewiger Prozess. Kaum hast du deinen Blue Ocean geschaffen, färbt er sich langsam rot. Nachahmer kommen, die Logik etabliert sich, der Kampf beginnt von neuem.
Aber – und das ist der entscheidende Punkt – in diesem ewigen Prozess der Neuerfindung liegt die eigentliche Stärke. Nicht der Blue Ocean selbst ist das Ziel, sondern die Fähigkeit, immer wieder neue zu erschaffen.
Die drei Fragen, die alles verändern
Bevor du weiterscrollst, nimm dir einen Moment:
- Was würdest du in deiner Branche abschaffen, wenn du könntest – auch wenn alle sagen, es sei unverzichtbar?
- Welche Kundengruppe ignoriert deine gesamte Branche systematisch – und warum?
- Wenn du dein Geschäftsmodell komplett neu erfinden müsstest, aber deine Kernkompetenz behalten dürftest – was würdest du tun?
Die Antworten auf diese Fragen sind der Anfang deines Blue Oceans.
Der Preis der Transformation
Die Blue Ocean Strategie ist keine Methode, sie ist eine Haltung. Sie verlangt:
- Mut zur Kannibalisierung: Bereit sein, das eigene Geschäft zu zerstören
- Akzeptanz der Unsicherheit: Neue Märkte haben keine Benchmarks
- Philosophische Tiefe: Verstehen, dass Märkte Konstrukte sind, keine Naturgesetze
Senecas Worte hallen nach: "Jeder Neuanfang kommt aus dem Ende von etwas anderem." Dein Blue Ocean entsteht aus dem Ende deiner alten Denkweise.
Der Resonanzraum: Wo Transformation beginnt
In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich immer wieder denselben Moment: Die Erkenntnis, dass der größte Feind nicht die Konkurrenz ist, sondern die eigene Branchenlogik.
Transformation beginnt nicht mit neuen Strategien. Sie beginnt mit neuen Fragen.
Die Blue Ocean Strategie ist letztendlich ein Werkzeug der strategischen Selbstüberwindung. Sie fordert dich auf, nicht nur dein Geschäft neu zu denken, sondern deine gesamte unternehmerische Identität.
Die Frage ist nicht, ob du einen Blue Ocean findest. Die Frage ist, ob du bereit bist, dafür den sicheren Hafen zu verlassen.
Kim, W. C. und Mauborgne, R. (2015) Blue Ocean Strategy, Expanded Edition: How to Create Uncontested Market Space and Make the Competition Irrelevant.
Kabukin, D. (2014) Reviewing the Blue Ocean Strategy. Is the Blue Ocean Strategy valid and reliable?.
Kim, W. C. und Mauborgne, R. (2004) Blue Ocean Strategy.
Yonder Consulting (2024) 3 examples of blue ocean strategy.