Zwischen Resonanz und Revolte – Die Szenariomatrix als Möglichkeitsraum

Portrait von Constantin Melchers tantin Consulting UG
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Letztes Update:
19.12.2025

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Eine Szenariomatrix ist ein strategisches Werkzeug, das mögliche Zukünfte entlang von zwei oder mehr Achsen strukturiert und so Handlungsoptionen sichtbar macht. Klassische 2x2-Matrizen greifen oft zu kurz – sie erzeugen Scheinsicherheit statt echter Orientierung. Der Schlüssel liegt in der Achsenwahl: Sie offenbart nicht die Zukunft, sondern die Annahmen, Ängste und blinden Flecken der Organisation. Wirksame Szenarioarbeit nutzt diese Erkenntnis als Hebel für strategische Selbstreflexion und Transformation.

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Was ist eine Szenariomatrix und wozu dient sie?

Eine Szenariomatrix ist ein Instrument der strategischen Vorausschau, das alternative Zukunftsbilder systematisch strukturiert. Sie ordnet mögliche Entwicklungen entlang von Achsen – typischerweise zwei Schlüsselunsicherheiten – und erzeugt so distinkte Szenarien, die als Grundlage für Strategieentwicklung, Risikobewertung und Entscheidungsfindung dienen.

Soweit die Theorie. Jetzt zur Praxis.

Die meisten Szenariomatrizen sind Landkarten für Orte, die es nie geben wird. Zwei Achsen, vier Felder, Namen wie "Best Case" und "Worst Case". Irgendwer hat "Digitalisierung" und "Regulierung" an die Achsen geschrieben, und jetzt starrt das Leadership-Team auf vier Quadranten, die sich anfühlen wie Hotelzimmer: funktional, austauschbar, ohne Seele.

Das Problem ist nicht die Methode. Das Problem ist, was wir daraus machen: Beschäftigungstherapie für Strategieabteilungen. Intellektuelles Stretching, bevor man sich wieder ins Tagesgeschäft fallen lässt.

Was wäre, wenn Szenarien nicht beruhigen, sondern beunruhigen würden?

Warum scheitern klassische Szenariomatrizen so oft?

Klassische Szenariomatrizen scheitern, weil sie Kontrolle simulieren, statt Erkenntnis zu erzeugen. Sie reduzieren Komplexität auf vier Felder und suggerieren Beherrschbarkeit, wo Unsicherheit regiert.

Typische Symptome gescheiterter Szenarioarbeit:

  • Der Erkenntnisgewinn bleibt diffus
  • Handlungsimpulse werden auf "nach dem Quartal" vertagt
  • Teams nicken, aber niemand handelt anders
  • Die Matrix landet in der Schublade – neben den anderen

Der eigentliche Fehler liegt tiefer: Die meisten Organisationen nutzen Szenarien, um die Zukunft zu kontrollieren. Aber Zukunft lässt sich nicht kontrollieren. Sie lässt sich nur gestalten – wenn Du bereit bist, Dich von Gewissheiten zu lösen.

Das ist der Unterschied zwischen Szenarioplanung und Szenarioarbeit. Planung will sichern. Arbeit will bewegen.

Wie wählt man die richtigen Achsen für eine Szenariomatrix?

Die Wahl der Achsen ist keine methodische Entscheidung – sie ist ein Akt der Selbstoffenbarung.

Achsen sind keine neutralen Parameter. Sie offenbaren, welche Gegensätze Dich beschäftigen, welche Grundannahmen Dein Denken bestimmen – und welche Themen Du unbewusst ausblendest.

Typische Spannungsfelder für Szenarioachsen:

  • Stabilität vs. Wandel
  • Kontrolle vs. Offenheit
  • Effizienz vs. Sinnorientierung
  • Zentralisierung vs. Dezentralisierung
  • Technologieführerschaft vs. Kostenfokus

Die entscheidende Frage ist nicht: Welche Achsen sind richtig?

Die Frage ist: Was sagt Deine Wahl über Dich?

Vielleicht ist es die Angst vor Kontrollverlust, die Dich davon abhält, "radikale Offenheit" als Achse zu setzen. Oder die stille Hoffnung auf Stabilität, die "disruptiven Wandel" zum Randphänomen degradiert.

Die Achsenwahl ist der erste strategische Akt der Selbstreflexion. Hier beginnt echte Szenarioarbeit – oder hier endet sie, bevor sie angefangen hat.

Was unterscheidet eine 3x3-Matrix von der klassischen 2x2-Struktur?

Eine 3x3-Szenariomatrix erweitert den Möglichkeitsraum, indem sie pro Achse drei statt zwei Ausprägungen zulässt. Das erzeugt neun statt vier Szenarien und erlaubt differenziertere Zukunftsbilder.

Warum das wichtig ist:

Zukunft ist kein binäres Konstrukt. Sie ist komplex, widersprüchlich, offen. Die 2x2-Matrix zwingt zur Vereinfachung, die oft mehr verbirgt als sie zeigt. Eine 3x3-Struktur – oder multidimensionale Modelle – lässt unterschiedliche Zukünfte nebeneinander existieren, ohne sie vorschnell zu priorisieren.

Die Matrix als Denkraum eröffnet:

  • Einen Spiegel für organisationale Selbstbilder
  • Raum für identitätsstiftende Fragen
  • Optionen, die in der 2x2-Logik unsichtbar bleiben
  • Strategische Erzählbarkeit statt Kästchen-Denken

In unseren Workshops fragen wir nicht: Welches Szenario ist am wahrscheinlichsten?

Wir fragen: Welches fühlt sich für Euch am fremdesten an – und warum?

Denn genau dort, im Unbehagen, liegt der strategische Hebel.

Was bedeuten Resonanz und Revolte in der Szenarioarbeit?

Resonanz und Revolte sind zwei komplementäre Prinzipien wirksamer Szenarioarbeit: Resonanz macht übersehene Signale hörbar, Revolte fordert eingefahrene Denkmuster heraus.

Resonanz bedeutet: Zuhören, bevor Du antwortest. Echos aus der Vergangenheit wahrnehmen, die in die Gegenwart hineinwirken. Schwache Signale aus der Zukunft ernst nehmen, die andere ignorieren. Resonanz verbindet Dich mit dem, was Du nicht hören wolltest.

Revolte bedeutet: Dich von vermeintlichen Gewissheiten lösen. Vertraute Strategien destabilisieren. Produktive Reibung erzeugen. Revolte konfrontiert Dich mit dem, was Du für sicher hieltest.

Ein starkes Szenario tut beides. Es ist keine Prognose – es ist ein Spiegel und ein Hammer zugleich.

Das Ergebnis:

  • Klärung organisationaler Werte und Spannungen
  • Brüche mit eingefahrenen Narrativen
  • Mut zur Positionierung, wo andere abwarten
  • Der Sprung in neue Handlungslogiken – das, was wir den dionysischen Sprung nennen

Der ehrliche Preis: Warum Szenarioarbeit oft scheitert

Tiefgreifende Szenarioarbeit kann enorme Wirkung entfalten – aber nur, wenn die Organisation bereit ist, sich darauf einzulassen. Sie verlangt Mut, Offenheit und die Bereitschaft zur Selbstkonfrontation.

Die unbequeme Wahrheit:

  • Szenarioarbeit braucht Führung, die Ambiguität aushält
  • Sie braucht Teams, die gewohnte Denkrahmen wirklich hinterfragen wollen
  • Sie braucht Zeit, die niemand hat – und Geduld, die noch seltener ist
  • Sie scheitert, wenn sie als Workshop-Event statt als strategischer Prozess verstanden wird

Am Ende entscheidet nicht "die Organisation". Es entscheiden Menschen. Menschen mit Ängsten, Hoffnungen, Routinen und inneren Bildern der Zukunft, die sie ungern in Frage stellen.

Szenarien helfen, diese inneren Bilder sichtbar zu machen. Sie geben Sprache, wo vorher Schweigen war. Richtung, wo Unsicherheit regierte.

Die wahre Kunst der Szenarioarbeit besteht nicht darin, richtig zu liegen.

Sie besteht darin, Möglichkeitsräume zu erschließen, die vorher unsichtbar waren.

Die Frage, die bleibt

Du hast jetzt gelesen, was eine Szenariomatrix sein könnte. Ein Möglichkeitsraum statt ein Planungsraster. Ein Spiegel statt ein Fernrohr. Konfrontation statt Komfort.

Die Frage ist nicht, ob Du das verstanden hast.

Die Frage ist: Welches Szenario Deiner eigenen Zukunft hast Du bisher nicht gewagt zu denken – weil es zu viel von Dir verlangt hätte?

Häufig gestellte Fragen

Was ist eine Szenariomatrix und wozu dient sie?

Eine Szenariomatrix ist ein Instrument der strategischen Vorausschau, das alternative Zukunftsbilder systematisch strukturiert. Sie ordnet mögliche Entwicklungen entlang von Achsen – typischerweise zwei Schlüsselunsicherheiten – und erzeugt so distinkte Szenarien für Strategieentwicklung, Risikobewertung und Entscheidungsfindung.

Wie wählt man die richtigen Achsen für eine Szenariomatrix?

Die Achsenwahl sollte die zwei wichtigsten Unsicherheiten abbilden, die für die strategische Frage relevant sind. Typische Spannungsfelder sind: Stabilität vs. Wandel, Kontrolle vs. Offenheit, Effizienz vs. Sinnorientierung. Die Wahl offenbart oft unbewusste Annahmen und blinde Flecken der Organisation.

Was unterscheidet eine 3x3-Matrix von der klassischen 2x2-Struktur?

Eine 3x3-Szenariomatrix erweitert den Möglichkeitsraum, indem sie pro Achse drei statt zwei Ausprägungen zulässt. Das erzeugt neun statt vier Szenarien und erlaubt differenziertere Zukunftsbilder, die der Komplexität realer Entwicklungen besser gerecht werden.

Warum scheitern klassische Szenariomatrizen so oft?

Klassische Szenariomatrizen scheitern, weil sie Kontrolle simulieren statt Erkenntnis zu erzeugen. Sie reduzieren Komplexität auf vier Felder und suggerieren Beherrschbarkeit, wo Unsicherheit regiert. Der Erkenntnisgewinn bleibt diffus, Handlungsimpulse werden vertagt.

Was bedeuten Resonanz und Revolte in der Szenarioarbeit?

Resonanz macht übersehene Signale hörbar – Echos aus Vergangenheit und schwache Signale aus der Zukunft. Revolte fordert eingefahrene Denkmuster heraus und löst von vermeintlichen Gewissheiten. Wirksame Szenarioarbeit kombiniert beide Prinzipien.

Quellen

Wulf, T., Meissner, P. und Stubner, S., 2010. A Scenario-based Approach to Strategic Planning – Tool Description Scenario Matrix. Marburg: Universität Marburg.

Curry, A. und Schultz, W., 2009. Roads Less Travelled: Different Methods, Different Futures. Journal of Futures Studies, 13(4), S. 35–60.

Kahane, A., 2012. Transformative Scenario Planning: Working Together to Change the Future. Stanford Social Innovation Review, 10(4), S. 1–6.

Rohrbeck, R. und Heger, T., 2021. Scenario-based strategizing. Berlin: Rohrbeck Heger GmbH.

Über den Autor

Portrait von Constantin Melchers tantin Consulting UG

Constantin Melchers

Gründer von tantin Consulting – einem Think & Do Tank für strategische Selbstüberwindung.

Strategie beginnt für ihn nicht mit Antworten, sondern mit der richtigen Frage.

Sein Prinzip: anders statt besser.

Mit Wurzeln in der Philosophie und einem Blick fürs Wesentliche, begleitet er Organisationen durch Wandel – klar, mutig, wirksam.

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