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KI revolutioniert Führungskommunikation fundamental: Als erstes "formloses" Medium macht sie McLuhans "The medium is the message" obsolet – oder bestätigt es auf paradoxe Weise. Wenn das Medium jede Form annehmen kann, wird die Klarheit der Absicht zur einzigen Währung. Führungskräfte müssen von Medienkompetenz zu Intentionskompetenz wechseln. Der Artikel zeigt drei Evolutionsstufen der KI-Nutzung (Delegation/Augmentation/Transformation) und skizziert die Entwicklung bis 2030. Kernbotschaft: KI verstärkt, was da ist – wenn nichts da ist außer Unklarheit, verstärkt sie die Leere. Die Zukunft gehört denen, die KI als Spiegel und Verstärker menschlicher Intention nutzen.
Audio-Summary des Beitrags
Eine CEO steht vor 500 Mitarbeitenden. Ihre Jahresansprache: bewegend, persönlich, authentisch. Standing Ovations. In den Fluren danach: "Das war ihre beste Rede ever!" Die CEO nickt dankend. Was niemand weiß: Sie hat den Text vor einer Stunde zum ersten Mal gelesen. ChatGPT hat ihn geschrieben.
Die Mitarbeiter loben besonders die "persönliche Note" und wie sie "wirklich aus dem Herzen" gesprochen habe. Die CEO fühlt eine Mischung aus Triumph und Unbehagen.
Was sagt es über unsere Kommunikation aus, wenn KI menschlicher wirkt als Menschen?
"The Medium is the Message" – bis jetzt
Marshall McLuhan revolutionierte unser Verständnis von Kommunikation. Seine Kernthese: Das Medium ist nicht neutral. Es formt aktiv, was und wie wir denken.
Der Buchdruck fragmentierte das Wissen. Das Fernsehen machte uns zu Zuschauern unseres eigenen Lebens. E-Mails verwandelten Gespräche in Dokumentationen. Jedes Medium, so McLuhan, prägt nicht nur den Inhalt – es verändert den Sender und Empfänger selbst.
Bis jetzt.
Denn KI bricht mit diesem Gesetz. Sie ist das erste Medium, das keine eigene Form erzwingt. Ein Shapeshifter, der jede gewünschte Gestalt annimmt. Aber hier liegt der entscheidende Punkt: KI HAT eine Message – sie flüstert uns zu: "Form ist verhandelbar. Nur deine Absicht zählt."
Das ist keine Widerlegung McLuhans. Es ist seine ultimative Bestätigung. Denn ein Medium, das alle Formen annehmen kann, zwingt uns zur radikalsten Botschaft überhaupt: Wir müssen wissen, was wir wollen.
KI als mediumloses Medium – Was das für Führungskräfte bedeutet
Was in der Praxis passiert:
Stell dir vor: Ein mittelständischer Geschäftsführer verliert einen Großkunden. Die Stimmung ist im Keller. Seine erste Reaktion: "Ich schreibe eine Mail an alle."
Dann pausiert er. Was will er wirklich erreichen? Nicht informieren – das wissen alle. Er will Zuversicht säen. Kampfgeist wecken. Gemeinschaft stärken.
Er gibt ChatGPT seine rohen Gedanken: Die Enttäuschung, aber auch seinen Glauben ans Team. Die KI generiert fünf Varianten:
- Eine sachliche Mail
- Eine emotionale Ansprache
- Ein Video-Skript
- Talking Points für Abteilungstreffen
- Eine WhatsApp-Sprachnachricht
Die Wahl fällt auf Abteilungstreffen – aber mit den KI-generierten emotionalen Kernbotschaften. Das Ergebnis? Die persönlichsten Gespräche, die viele Führungskräfte je führen. Die KI gibt nicht die Worte vor – sie hilft zu verstehen, was wirklich gesagt werden will.
Die neue Authentizität
Hier müssen wir ehrlich sein: Was ist "authentisch"?
Ist es authentisch, wenn ein introvertierter CEO holprige Reden hält, weil das "echt" ist? Oder ist es authentischer, wenn er seine wahren Gedanken und Gefühle mit Hilfe von KI so ausdrückt, dass sie ankommen?
Authentizität war immer schon eine Konstruktion. Wir performen verschiedene Versionen von uns selbst. KI macht diese Performance nur effizienter. Die Frage ist nicht: "Bin das noch ich?" Die Frage ist: "Ist das die Version von mir, die ich sein will?"
Die unbequeme Wahrheit: Viele von uns waren nie authentisch. Wir haben uns hinter Floskeln versteckt, hinter Hierarchien, hinter dem Medium. KI reißt diese Masken weg.
Führungskommunikation neu denken: Von der Medienwahl zur Sinnfrage
Das alte Führungsparadigma fragte: "Wie verpacke ich meine Botschaft?" Meeting oder Mail? Präsentation oder Gespräch?
Das neue Paradigma fragt radikal anders: "Was soll sich verändern, nachdem Menschen meine Botschaft gehört haben?"
Ein Szenario, das den Unterschied zeigt:
Eine Agentur-Inhaberin will ihre neue Unternehmensstrategie kommunizieren. Früher hätte sie PowerPoint-Slides gebaut. Stattdessen fragt sie sich: "Was braucht mein Team wirklich?"
Die Antwort: Keine Information, sondern Orientierung. Keine Präsentation, sondern Dialog. Sie nutzt KI, um aus ihrer Strategie Diskussionsfragen zu entwickeln. Das Team erarbeitet die Strategie gemeinsam – basierend auf ihren Impulsen, aber ohne vorgegebene Antworten.
Wenn KI versagt – die Grenzen des mediumlosen Mediums
Aber seien wir ehrlich: KI kann auch spektakulär scheitern.
Stell dir vor: Ein Unternehmen lässt Kündigungen von ChatGPT formulieren. Das Ergebnis wäre vermutlich perfekt formuliert, empathisch, rechtssicher. Und völlig daneben. Die Mitarbeiter würden sofort die Kälte hinter der perfekten Fassade spüren.
Warum? Weil die Intention fehlen würde. Wenn Führung nicht kommunizieren will, sondern sich verstecken – dann verstärkt KI genau das. Sie verstärkt, was da ist. Wenn nichts da ist außer Feigheit, verstärkt sie die Leere.
Das ist die Ethik des mediumlosen Mediums: Es gibt keine Ausreden mehr.
Die drei Evolutionsstufen der KI-Kommunikation
Stufe 1: Delegation (gefährlich) "Schreib du mal für mich." Die Flucht vor Verantwortung. Hier wird KI zur Maske. Das rächt sich immer.
Stufe 2: Augmentation (solide) "Hilf mir, es besser zu sagen." KI als Werkzeug. Nützlich, aber begrenzt. Du bleibst in deinen alten Mustern.
Stufe 3: Transformation (revolutionär) "Zeig mir, was ich wirklich sagen will." KI als Spiegel und Sparringspartner. Du entdeckst deine kommunikative Identität neu.
Konkrete Übung für Stufe 3: Nimm deine letzte wichtige Nachricht. Lass KI zehn völlig unterschiedliche Versionen erstellen – von sachlich bis poetisch. Welche resoniert? Warum? Was sagt das über dich?
Die Machtfrage: Wer kontrolliert das mediumlose Medium?
Hier wird es politisch. Wenn KI alle Formen annehmen kann, wer bestimmt dann die Standards? OpenAI? Microsoft? Die EU?
Das "mediumlose Medium" ist nicht neutral. Es trägt die Werte seiner Schöpfer. Die Bias seiner Trainingsdaten. Die Grenzen seiner Zensur.
Für Führungskräfte bedeutet das: Medienkompetenz war gestern. KI-Kompetenz ist heute. Aber nicht als Technik-Skill, sondern als kritisches Bewusstsein. Welche KI nutze ich? Warum? Was sind ihre blinden Flecken?
Die neue Macht liegt nicht bei denen, die KI bauen. Sie liegt bei denen, die verstehen, wie sie unsere Kommunikation formt – und diese Formung bewusst gestalten.
Wie KI-Kommunikation unsere Führungskultur verändert – 3 mögliche Phasen bis 2030
2025-2027: Die Honeymoon-PhaseAlle experimentieren. KI-generierte Kommunikation wird Norm. Die Qualität steigt überall. Aber auch die Gleichförmigkeit.
2027-2030: Die ErnüchterungMenschen sehnen sich nach "echten" Stimmen. Anti-KI-Bewegungen entstehen. "Human only" wird zum Gütesiegel. Der Pendelschlag.
Ab 2030: Die SyntheseWir lernen zu unterscheiden: Wo KI Sinn macht (Effizienz, Klarheit) und wo nicht (Nähe, Konflikt). KI wird unsichtbarer Teil unseres kommunikativen Repertoires – wie heute die Rechtschreibprüfung.
Die Gewinner werden die sein, die schon heute lernen, KI als das zu nutzen, was sie ist: Ein Verstärker menschlicher Intention, nicht ihr Ersatz.
Der transformative Sprung: Wenn Klarheit zur Währung wird
Wir stehen an einem Wendepunkt. McLuhan hatte recht: Das Medium prägt die Botschaft. Aber er konnte nicht ahnen, dass es einmal ein Medium geben würde, das diese Prägung selbst in Frage stellt.
KI zwingt uns zu der Frage, die wir lange vermieden haben: Wer sind wir, wenn wir kommunizieren? Was wollen wir wirklich sagen? Und sind wir mutig genug, es zu sagen?
Die finale Erkenntnis:
In einer Welt, wo das Medium keine Grenzen mehr setzt, wird die Klarheit der Absicht zur einzigen Währung. Aber – und das ist der Twist – diese Klarheit war schon immer die einzige Währung. KI macht es nur unmöglich, das weiter zu ignorieren.
Du kannst perfekt kommunizieren. Die Frage ist: Willst du es? Und noch wichtiger: Weißt du, was du kommunizieren willst?
Die Antwort beginnt nicht bei der Technologie. Sie beginnt bei dir.
Und manchmal braucht es einen Resonanzraum, um diese Antwort zu finden. Einen Raum, wo nicht die Technik im Zentrum steht, sondern die Frage: Wer will ich sein, wenn ich spreche?
McLuhan, Marshall (1962): The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man.
Baudrillard, Jean (1981): Simulacra and Simulation.
McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man.
Mollick, Ethan (2024): Co-Intelligence: Living and Working with AI.
Newport, Cal (2016): Deep Work: Rules for Focused Success in a Distracted World.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung.
Turkle, Sherry (2015): Reclaiming Conversation: The Power of Talk in a Digital Age.