Der gefährliche Irrtum über Strategie (und warum Mintzberg ihn durchschaut hat)

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Constantin Melchers
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Lesezeit: 10 Minuten
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Letzes Update:
9.6.2025

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Mintzbergs 5 Ps entlarven die Illusion, dass Strategie gleich Planung ist. Plan gibt Struktur, aber scheitert an der Realität. Ploy ist der gezielte Regelbruch, der Märkte verändert. Pattern zeigt die wahre Strategie – die, die aus Deinen Handlungen emergiert, nicht aus PowerPoints. Position definiert Deinen einzigartigen Platz in den Köpfen. Perspective ist die DNA, die alles zusammenhält.

Die Erkenntnis: Erfolgreiche Strategien entstehen im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Chaos, zwischen dem, was wir planen und dem, was wir tatsächlich tun. Für KMU-Führungskräfte bedeutet das: Weniger Strategiedokumente, mehr strategische Klarheit. Die stärksten Strategien sind oft die, die wir leben, ohne sie zu kennen.

Audio-Summary des Beitrags

Stell Dir vor, Du sitzt im Strategiemeeting. PowerPoint-Schlacht, SWOT-Analysen, Zahlenkolonnen. Alle nicken. Der Plan steht. Und dann? Dann macht die Realität, was sie immer macht: Sie lacht über Deine Pläne.

Hier ist die unbequeme Wahrheit: Die meisten Strategien scheitern nicht an der Planung. Sie scheitern daran, dass wir Strategie falsch verstehen.

Henry Mintzberg wusste das schon vor 30 Jahren. Seine "5 Ps der Strategie" sind keine weitere Management-Methode. Sie sind eine fundamentale Neubewertung dessen, was Strategie wirklich ist. Und genau das macht sie für Dich als Führungskraft in einem KMU so wertvoll.

Die strategische Selbsttäuschung, die Dich Millionen kostet

Wann hast Du zuletzt eine Strategie verworfen, WEIL sie funktioniert hat?

Die Frage klingt absurd. Ist sie aber nicht. Denn hier liegt der Kern von Mintzbergs Erkenntnis: Strategie ist nicht das, was im Businessplan steht. Strategie ist das, was tatsächlich passiert. Und manchmal ist das Gegenteil von dem, was geplant war.

Mintzbergs 5 Ps – Plan, Ploy, Pattern, Position und Perspective – sind keine Checkliste. Sie sind fünf Linsen, durch die Du die Realität Deiner Strategie erkennen kannst. Nicht die Wunschvorstellung. Die Realität.

Plan: Die apollinische Illusion der Kontrolle

Ein Plan ist wie eine Landkarte für unbekanntes Terrain. Nützlich? Absolut. Die ganze Wahrheit? Niemals.

Der Plan-Paradox: Je detaillierter Dein Plan, desto wahrscheinlicher sein Scheitern. Warum? Weil die Welt sich nicht an Deine Excel-Tabellen hält.

Apple's iPhone-Strategie wird gerne als Beispiel für perfekte Planung genannt. Die Wahrheit? Steve Jobs verwarf drei komplette Prototypen. Der "Plan" war in Wirklichkeit die Bereitschaft, den Plan zu opfern.

Für Dein KMU bedeutet das:

  • Plane, aber verliebe Dich nicht in Deinen Plan
  • Setze Meilensteine, keine Betonmauern
  • Der beste Plan ist der, den Du ändern kannst

"In der Strategie ist der Plan der Anfang, nicht das Ende. Die wahre Kunst liegt darin zu wissen, wann man ihn über Bord werfen muss."

Ploy: Der dionysische Tanz mit dem Chaos

Ein Ploy ist kein Plan. Ein Ploy ist Jazz. Improvisation. Der gezielte Regelbruch.

Netflix gegen Blockbuster? Das war kein besserer Plan. Das war ein Ploy. Ein taktisches Manöver, das die Spielregeln änderte. Blockbuster spielte Schach. Netflix kippte das Brett um.

Die Ploy-Frage für Dich: Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst vor den Konsequenzen hättest?

Drei Ploy-Prinzipien für KMU:

  1. Timing schlägt Ressourcen – Der richtige Moment ist wertvoller als das große Budget
  2. Überraschung schafft Raum – Während andere reagieren, agierst Du
  3. Klein denken, groß wirken – David hatte auch nur eine Steinschleuder

Pattern: Die Strategie, die Du nicht geplant hast

Hier wird es philosophisch. Und praktisch zugleich.

Pattern ist die Strategie, die aus Deinen Handlungen emergiert. Wie Trampelpfade im Park, die zeigen, wo Menschen wirklich langgehen – nicht wo der Architekt es geplant hatte.

3M's Post-it Notes? Nie geplant. Ein gescheitertes Experiment wurde zum Milliardenerfolg. Warum? Weil jemand das Pattern erkannt hat: Innovation entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Freiraum.

Der Pattern-Test für Dein Unternehmen:

  • Analysiere Deine letzten 10 Erfolge: Was war der gemeinsame Nenner?
  • Schaue auf Deine Misserfolge: Welches Pattern haben sie durchbrochen?
  • Frage Dein Team: "Was machen wir immer, obwohl es nirgends steht?"

"Die stärksten Strategien sind die, die wir leben, ohne sie zu kennen. Pattern macht sie sichtbar."

Position: Der Ort, den nur Du besetzen kannst

Position ist nicht Marktanteil. Position ist der Platz in den Köpfen Deiner Kunden, den nur Du ausfüllen kannst.

IKEA verkauft keine Möbel. IKEA verkauft die Demokratisierung von Design. Diese Position ist so klar, dass "IKEA-Hack" ein eigener Begriff wurde.

Die Positionierungs-Provokation: Wenn Dein Unternehmen morgen verschwände – was würde wirklich fehlen? Nicht Deine Produkte. Deine Bedeutung.

Drei Wege zur unverwechselbaren Position:

  1. Sei der Einzige, nicht der Beste – "Best Practice" ist der Tod der Differenzierung
  2. Besetze die Lücke, die keiner sieht – Oft liegt sie zwischen etablierten Kategorien
  3. Mache Deine Schwäche zur Stärke – Klein? Nennen sie es "boutique"

Perspective: Die DNA Deiner strategischen Identität

Perspective ist das, was bleibt, wenn alles andere sich ändert. Es ist die Seele Deiner Strategie.

Google's "Don't be evil" war keine PR-Floskel. Es war eine Perspective, die Entscheidungen prägte. Dass sie es später änderten? Zeigt nur, wie fundamental Perspective ist.

Die Perspective-Reflexion: Stelle Dir vor, Dein Unternehmen wäre eine Person. Welchen Charakter hätte sie? Wofür würde sie morgens aufstehen? Wofür würde sie kämpfen?

Perspective ist gefährlich. Warum? Weil sie Dich zwingt, Nein zu sagen. Zu lukrativen Aufträgen, die nicht passen. Zu Trends, die alle mitmachen. Zu Kompromissen, die Deine Seele verkaufen.

"Eine klare Perspective ist wie ein Leuchtturm: Sie zeigt nicht nur anderen den Weg. Sie erinnert Dich selbst daran, wer Du bist."

Die 5 Ps in der Praxis: Der strategische Tanz

Die wahre Magie entsteht, wenn die 5 Ps zusammenspielen:

  • Plan gibt Struktur – aber Pattern zeigt, was wirklich funktioniert
  • Position definiert Deinen Platz – aber Ploy erobert ihn
  • Perspective ist der Kompass – der alle anderen Ps ausrichtet

Tesla ist das perfekte Beispiel: Der Plan (E-Autos) wurde zum Pattern (Technologieführerschaft), schuf eine Position (Premium-Nachhaltigkeit) durch clevere Ploys (Supercharger-Netzwerk), alles getragen von einer klaren Perspective (Beschleunigung nachhaltiger Energie).

Die kritische Wahrheit: Wo Mintzberg an seine Grenzen stößt

Lass uns ehrlich sein: Mintzbergs 5 Ps sind brillant. Und gefährlich.

Gefährlich, weil sie Dir vorgaukeln können, alles im Griff zu haben. Als könntest Du einfach alle fünf Perspektiven jonglieren und – voilà – perfekte Strategie.

Die Realität? Die 5 Ps können sich gegenseitig kannibalisieren.

Dein sorgfältig ausgearbeiteter Plan? Wird vom erfolgreichen Pattern überrollt. Deine klare Position? Wird von einem notwendigen Ploy gesprengt. Deine Perspective? Kann zur Fessel werden, wenn der Markt Transformation verlangt.

Drei kritische Blindstellen des Modells:

  1. Die Hierarchie-Falle: Mintzberg sagt nicht, welches P wann Vorrang hat. In der Krise brauchst Du vielleicht den Plan. Im Chaos rettet Dich das Pattern. Aber wer entscheidet das? Du. Ohne Netz.
  2. Die Komplexitäts-Illusion: Für ein 5-Personen-KMU sind 5 strategische Perspektiven wie 5 verschiedene Sprachen gleichzeitig sprechen. Die Gefahr: Paralysis by Analysis. Manchmal ist eine klare Position mehr wert als die perfekte Balance.
  3. Die Romantisierung des Ungeplanten: Ja, Post-it war ein Zufall. Aber für jeden Post-it gibt es tausend gescheiterte Experimente, die niemand feiert. Pattern-Strategie kann auch bedeuten: Wir haben keine Ahnung, was wir tun.

Der vielleicht wichtigste Kritikpunkt: Die 5 Ps sagen Dir nicht, wann Du aufhören sollst zu analysieren und anfangen sollst zu handeln. Sie sind ein Diagnosewerkzeug, das zur Obsession werden kann.

"Die 5 Ps sind wie ein Schweizer Messer: Unglaublich vielseitig. Aber versuch mal, damit einen Nagel in die Wand zu schlagen."

Und trotzdem – oder gerade deswegen – sind sie unverzichtbar. Weil sie Dich zwingen, Strategie mehrdimensional zu denken. Weil sie die Illusion der Kontrolle zerstören. Weil sie ehrlich sind über das, was Strategie wirklich ist: ein permanenter Balanceakt.

Der unbequeme Spiegel: Wo stehst Du wirklich?

Drei Fragen, die Deine Strategie entlarven:

  1. Was ist Deine heimliche Strategie? Die, die Du lebst, aber niemandem erzählst?
  2. Welches Pattern in Deinem Unternehmen macht Dir Angst? Weil es zu erfolgreich ist, um es zu ändern?
  3. Wenn Du nur eine der 5 Ps perfekt beherrschen könntest – welche würde Dein Unternehmen am meisten transformieren?

Die Transformation beginnt mit einer Entscheidung

Mintzbergs 5 Ps sind kein Konzept. Sie sind ein Spiegel. Sie zeigen Dir nicht, wie Strategie sein sollte. Sie zeigen Dir, wie Strategie IST.

Die Frage ist: Bist Du bereit für diese Klarheit?

Denn hier liegt die eigentliche Herausforderung: Nicht die 5 Ps zu verstehen. Sondern den Mut zu haben, danach zu handeln. Den Plan zu opfern, wenn das Pattern stärker ist. Die Position zu verlassen, wenn die Perspective es verlangt. Den Ploy zu wagen, auch wenn er alles verändern könnte.

Strategie ist kein Dokument. Strategie ist eine Praxis. Und wie jede Praxis verlangt sie nicht Perfektion, sondern Hingabe.

In der Welt der Strategie gibt es die, die planen, und die, die gestalten. Mintzbergs 5 Ps zeigen Dir den Unterschied. Die Entscheidung, zu welcher Gruppe Du gehören willst, triffst nur Du.

Die nächste Strategiesitzung steht an? Nimm diese Fragen mit:

  • Welche unserer Erfolge haben wir nie geplant?
  • Welche Strategie leben wir, ohne es zu wissen?
  • Was würden wir tun, wenn Scheitern keine Option wäre?

Manchmal ist die beste Strategie die, die erst im Rückblick erkennbar wird. Mintzberg wusste das. Jetzt weißt Du es auch.

Quellen

Mintzberg, H. (1987) 'The Strategy Concept I: Five Ps for Strategy', California Management Review, 30(1), S. 11-24.

Mintzberg, H., Ahlstrand, B. und Lampel, J. (2020) Strategy Safari: The Complete Guide Through the Wilds of Strategic Management. 3. Aufl. Harlow: Pearson UK.

Mintzberg, H. (1994) 'The Rise and Fall of Strategic Planning', New York: Free Press.

Mintzberg, H. (1987) 'The Strategy Concept II: Another Look at Why Organizations Need Strategies', California Management Review, 30(1), S. 25-32.

Porter, M. E. (1996) 'What is Strategy?', Harvard Business Review, 74(6), S. 61-78.

Christensen, C. M. (1997) 'The Innovator's Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail', Boston: Harvard Business School Press.

Isaacson, W. (2011) 'Steve Jobs', New York: Simon & Schuster.

Yoffie, D. B. und Cusumano, M. A. (2015) 'Strategy Rules: Five Timeless Lessons from Bill Gates, Andy Grove, and Steve Jobs', New York: Harper Business.

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