Kill your Darlings: Warum Deine perfekte Unternehmensstrategie Dein größtes Problem ist

Portrait von Constantin Melchers tantin Consulting UG
Constantin Melchers
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Lesezeit: 12
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Letzes Update:
13.6.2025

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Die provokante Wahrheit über Unternehmensstrategie: Erfolgreiche Organisationen wie Netflix, Apple und Microsoft haben eines gemeinsam, sie "töten" ihre erfolgreichsten Strategien, bevor diese sie töten. Statt an X-Jahres-Plänen festzuhalten, kultivieren sie die Kunst der strategischen Selbstüberwindung.

Die Kernbotschaft: In einer Welt permanenter Transformation gewinnt nicht die beste Strategie, sondern die beste Fähigkeit, sich von Strategien zu lösen. Der Artikel zeigt, warum Deine "perfekte" Strategie Dein größtes Risiko sein könnte und wie die Haltung der "Purple Organization" – eine Synthese aus Struktur und radikaler Transformation – Unternehmen wirklich antifragil macht.

Audio-Summary des Beitrags

Das Strategie-Paradox moderner Führung

"Kill your darlings" – Jeder Schriftsteller kennt diese brutale Regel. Die schönsten Sätze, die cleversten Wendungen, die brillantesten Ideen: Wenn sie der Geschichte nicht dienen, müssen sie sterben.

Was Hemingway für Texte predigte, gilt radikal für Unternehmensstrategien. Nur dass wir es nicht wahrhaben wollen.

Netflix tötete seinen DVD-Darling. Ein Milliardengeschäft. Cash-Cow. Kernkompetenz. Reed Hastings wusste: Diese Strategie musste sterben, damit Netflix leben konnte. Heute lachen wir über Blockbuster. Aber damals? Damals nannten Analysten es Wahnsinn.

Deine beste Strategie – die, auf die Du am meisten stolz bist, die Dich nachts ruhig schlafen lässt, die Deinem Unternehmen Struktur gibt, könnte genau die Strategie sein, die Dich umbringt. Nicht trotz ihrer Brillanz. Sondern wegen ihr.

Die erfolgreichsten Unternehmen unserer Zeit haben eine gemeinsame Eigenschaft: Sie killen ihre Strategien, bevor diese sie töten.

Was ist Strategie wirklich?

Frag zehn Berater nach Unternehmensstrategie, und Du bekommst elf Definitionen. Die meisten klingen wie aus dem MBA-Lehrbuch: "Langfristige Planung zur Erreichung von Wettbewerbsvorteilen durch optimale Ressourcenallokation."

Bullshit.

Strategie ist simpler – und radikaler: Strategie ist die Kunst, Entscheidungen zu treffen, die Du später bereuen könntest.

Nicht die Entscheidungen, die sicher sind. Nicht die, die alle treffen würden. Sondern die, die weh tun. Die, die Liebgewonnenes zerstören. Die, die ins Unbekannte führen.

Netflix' Strategie war nicht "Streaming aufbauen". Es war "DVDs töten – unser eigenes Milliardengeschäft." Apples Strategie ist nicht "Innovation". Es ist "Kannibalisiere Dich selbst, bevor es andere tun."

Echte Strategie beginnt dort, wo der Businessplan aufhört und der Mut anfängt.

Die Illusion der strategischen Kontrolle

"Eine Strategie, die nicht bereit ist zu sterben, war nie wirklich lebendig."

Nietzsche hätte diese Schriftsteller-Weisheit sofort verstanden. Was für Hemingway die geliebten Sätze waren, sind für uns die ausgefeilten Strategien. Wir hängen an ihnen, pflegen sie, verteidigen sie und merken nicht, wie sie uns lähmen. In meiner Arbeit mit Führungskräften erlebe ich immer wieder: Die "Lieblinge" der Strategieabteilung werden zu den Fesseln des Unternehmens.

Das Echo der Vergangenheit

Jede Strategie trägt Echos in sich:

  • Vergangenheits-Echos: Die Muster, die uns hierher gebracht haben
  • Gegenwarts-Echos: Die Zwänge, denen wir uns unterwerfen
  • Zukunfts-Echos: Die Möglichkeiten, die wir uns vorstellen können

Das Problem? Die meisten Strategien verstärken nur die Echos der Vergangenheit. Sie optimieren, was war, statt zu erschaffen, was sein könnte.

Wann hast Du zuletzt eine Strategie verworfen, WEIL sie funktioniert hat?

Von der Strategie zur strategischen Selbstüberwindung

Der apollinische Trugschluss

Traditionelle Strategiearbeit ist apollinisch: Sie sucht Ordnung, Struktur, Vorhersagbarkeit. SWOT-Analysen. Porter's Five Forces. BCG-Matrizen. Alles Werkzeuge, um die Welt in überschaubare Kästchen zu packen.

Aber was, wenn die Welt sich weigert, in Kästchen zu passen?

Der dionysische Sprung

Hier kommt das Konzept der strategischen Selbstüberwindung ins Spiel. Es geht nicht darum, die perfekte Strategie zu entwickeln. Es geht darum, die Fähigkeit zu kultivieren, sich immer wieder neu zu erfinden.

Konkret bedeutet das:

  1. Strategische Demut kultivieren
    • Erkenne an, dass Deine beste Strategie morgen Dein größtes Hindernis sein könnte
    • Baue "Sollbruchstellen" in Deine Planung ein
    • Feiere das Verwerfen von Strategien als Zeichen von Stärke
  2. Resonanz statt Reaktion
    • Höre auf die schwachen Signale im Markt
    • Entwickle ein Gespür für das, was noch nicht ist, aber werden könnte
    • Lass Dich von Möglichkeiten führen, nicht von Projektionen

Der Mut zum strategischen Vakuum

Microsoft unter Satya Nadella. Der vielleicht spektakulärste Darling-Mord der Wirtschaftsgeschichte.

"Windows first" war mehr als eine Strategie – es war die DNA von Microsoft. Ballmer verteidigte diesen Darling wie eine Festung. Jedes Produkt, jede Entscheidung, jede Innovation musste Windows dienen.

Nadella kam. Und tötete den heiligsten aller Microsoft-Darlings.

Das Vakuum war brutal. Mitarbeiter orientierungslos. Analysten skeptisch. Die Identität eines 40-Milliarden-Konzerns – ausradiert.

Aber aus diesem Vakuum entstand etwas Neues: Cloud first. Open Source. Growth Mindset. Ein Microsoft, das mit Linux kuschelt. Undenkbar unter der alten Strategie.

Ergebnis? Börsenwert versiebenfacht.

Die Lektion: Manchmal musst Du den Mut haben, ohne Strategie zu sein. Das Vakuum auszuhalten. Dem Neuen Raum zu geben.

Die Purple Organization: Ein neues Paradigma

In der Beratungswelt predigen alle das Gleiche: Agilität, Flexibilität, Purpose. Neue Methoden, neue Strukturen, neue Prozesse. Aber was, wenn das Problem tiefer liegt?

Ich glaube, wir brauchen keine neue Organisationsform. Wir brauchen eine neue Organisationshaltung: Die Purple Organization.

Was macht eine Purple Organization aus?

Purple entsteht, wenn Du Blau (Struktur) und Rot (Transformation) mischst. Es ist die Farbe der Könige – und der Rebellen.

Eine Purple Organization:

  • Nutzt Strategien als Sprungbrett, nicht als Korsett
  • Kultiviert die Kunst der kreativen Zerstörung
  • Verbindet apollinische Klarheit mit dionysischem Mut
  • Sieht Widersprüche als Feature, nicht als Bug

Der Unterschied zu dem, was alle predigen:

Zeit für Purple: Wenn Best Practices und Agilität an ihre Grenzen stoßen

Die Zukunft gehört nicht den Agilen. Sie gehört denen, die bereit sind, ihre eigene Agilität zu überwinden.

Praktische Schritte zur strategischen Selbstüberwindung

1. Der Strategie-Friedhof

Die Übung: Richte einen "Strategie-Friedhof" ein. Ein Ort (physisch oder digital), wo Du Deine strategischen Darlings bewusst beerdigst.

Warum es funktioniert: Es macht das "Killing" zu einem Ritual. Du ehrst, was war, und machst Platz für das, was kommt. Wie ein Autor, der seine Lieblingssätze in einer separaten Datei sammelt – um sie dann nie wieder anzurühren.

Reflexionsfrage: Welcher Deiner strategischen Darlings klebt noch an Leben, obwohl er längst tot ist?

2. Die Umkehr-Session

Die Übung: Nimm Deine aktuelle Strategie und kehre jeden Punkt ins Gegenteil um. Was würde passieren?

Warum es funktioniert: Es durchbricht Denkblockaden und zeigt versteckte Annahmen auf.

Reflexionsfrage: Welche "verrückte" Idee aus der Umkehrung fasziniert Dich insgeheim?

3. Das Echo-Mapping

Die Übung: Identifiziere für jede strategische Entscheidung:

  • Welches Echo der Vergangenheit verstärke ich?
  • Welches Echo der Zukunft ignoriere ich?
  • Wo könnte ich ein neues Echo erzeugen?

Warum es funktioniert: Es macht unbewusste Muster sichtbar und öffnet neue Möglichkeitsräume.

Reflexionsfrage: Welches Echo in Deiner Organisation wartet darauf, gehört zu werden?

Der Preis der Nicht-Transformation

Kodak. 131 Jahre Firmengeschichte. Erfinder der Digitalfotografie. Und trotzdem tot.

Warum? Sie konnten ihren Darling nicht töten: das Filmgeschäft. Die Margen waren zu gut. Die Strategie zu erfolgreich. Die Excel-Sheets zu überzeugend.

Sie wussten, was kam. Sie hatten die Technologie. Sie hatten sogar eine Digitalstrategie. Aber sie war halbherzig – ein Seitenarm, keine Transformation.

"Wir sind im Filmgeschäft", sagten sie. Bis es kein Filmgeschäft mehr gab.

Die bittere Ironie: Sie starben an ihrer eigenen Erfindung, weil sie nicht bereit waren, ihr erfolgreichstes Geschäftsmodell zu ermorden.

Die Lektion? Wer seine strategischen Darlings nicht töten kann, wird von ihnen getötet.

Die transformative Frage

"Was würdet Ihr tun, wenn Eure Strategie morgen verboten wäre?"

Diese Frage stelle ich in jedem Strategieworkshop. Die Reaktionen sind immer gleich: Erst Schock. Dann Stille. Dann ein nervöses Lachen.

Und dann passiert etwas Magisches.

Die Fesseln fallen. Plötzlich sprudeln Ideen, die seit Jahren unterdrückt wurden. Partnerschaften, die "nicht zur Strategie passen". Experimente, die "zu riskant" sind. Märkte, die "nicht unser Fokus" sind.

Die bittere Erkenntnis: Die meisten Unternehmen werden nicht von ihrer Strategie geleitet – sie werden von ihr gefangen gehalten.

Seneca wusste: "Jeder ist so unglücklich, wie er glaubt zu sein." Übersetzt auf Strategie: Jedes Unternehmen ist so limitiert, wie es glaubt zu sein.

Die Frage bleibt: Was würdest DU tun, wenn Deine Strategie morgen verboten wäre?

Der Resonanzraum als Antwort

In meinen Resonanzraum-Workshops erlebe ich immer wieder denselben magischen Moment: Wenn Führungsteams aufhören, Strategien zu bauen und anfangen, Resonanzen zu spüren.

Es ist der Moment, wo aus:

  • "Was sollten wir tun?" ein "Was will durch uns entstehen?" wird
  • "Wie kontrollieren wir?" ein "Womit schwingen wir?" wird
  • "Was ist unser Plan?" ein "Was ist unsere Bereitschaft?" wird

Dein nächster Schritt

Die wichtigste strategische Entscheidung, die Du heute treffen kannst, ist paradox: Entscheide Dich für die Fähigkeit, Deine Entscheidungen zu überwinden.

Beginne klein:

  1. Diese Woche: Identifiziere eine strategische "Heilige Kuh" in Deinem Unternehmen
  2. Nächste Woche: Stelle sie radikal in Frage
  3. Übernächste Woche: Experimentiere mit dem Gegenteil

Und dann? Dann beobachte, was passiert, wenn Du aufhörst, Deine Strategie zu managen – und anfängst, sie zu tanzen.

Die Essenz: Ein Manifest

Strategische Selbstüberwindung ist keine Methode. Es ist eine Haltung.

Drei Sätze, die ich mir jeden Morgen sage und die Du Dir an die Wand hängen solltest:

  1. "Die Strategie, die mich hierher gebracht hat, bringt mich nicht weiter."
  2. "Meine brillanteste Idee könnte mein gefährlichster Feind sein."
  3. "Ich bin nur so lebendig wie meine Bereitschaft, meine Darlings zu töten."

"Kill your darlings" ist keine Grausamkeit. Es ist ein Akt der Liebe. Liebe zum Lebendigen, zum Werdenden, zum noch nicht Gedachten.

Netflix tötete DVDs. Microsoft tötete "Windows first". Apple tötet regelmäßig seine eigenen Bestseller.

Und Du?

Welchen Darling killst Du heute?

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